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Christoph Girardet / Matthias Müller

Freitag, 1. November 2013 – Samstag, 30. November 2013

Eröffnung
Onlineprogramm

Kuratiert von Thomas Elsaesser (Prof. für Film und Fernsehen, University of Amsterdam, Amsterdam / New York)

Phoenix Tapes (#4 Why Don’t You Love Me?), 1999 Einer der Publikumslieblinge der internationalen Kunstszene von 2010 / 2011 war Christian Marclays The Clock, eine 24-stündige zeitbasierte Arbeit, wobei Tausende von Fragmenten aus Hollywood-Spielfilmen so zusammengesetzt sind, dass jeder Filmsplitter auf die Minute verweist, die gerade in perfekter Synchronizität mit der Echtzeit des Betrachters abläuft. Marclays Tour de force könnte als Höhepunkt – als Kulmination, aber auch als Abschluss – von mehreren Jahrzehnten bezeichnet werden, in denen Künstlerinnen und Künstler aus (oftmals bekannten) Spielfilmen eine einzelne Szene, einen Blickwechsel, einen Moment des Dialogs oder einen Schauplatz entnommen oder chirurgisch entfernt haben, um aus diesen „gefundenen Objekten“ eine sorgfältig gefertigte Montage oder ein „Mashup“ (wie die Web-Version solcher Kompilationen genannt wird) zu machen, die den Teilen einen neuen Körper verpasst, der verblüffend menschlich und doch ebenso unzweifelhaft mechanisch ist.

Ein früher Pionier dieser Kunst der Kompilation ist Matthias Müller, der Ende der 1980er Jahre mit gefundenem Material (diversen Filmformaten, Amateurfilmen sowie mitgeschnittenen Fernsehaufnahmen) experimentiert hat und seit Anfang der 1990er Jahren mit Christoph Girardet zusammenarbeitet. So ist etwa Home Stories (1990) eine Kompilation von Frauen aus Fünfziger-Jahre-Melodramen, die sich ruhelos in ihren Betten hin- und herwälzen, in ein dressing gown schlüpfen, besorgt in der Morgen- oder Abenddämmerung warten, an geschlossenen Türen lauschen oder durch Fenster mit bedrückend schweren Vorhängen spähen, bevor sie, in Panik, durch Flure rennen oder schließlich ins Freie fliehen. Home Stories kondensiert brillant die Hysterie des Genres in einem Ballett aus Körpern und Gesten, die im häuslichen Rahmen gefangen sind und doch auf großartige Weise aus ihren Käfigen ausbrechen, während der Soundtrack mit seinen Bernard-Herrmann-artigen Streichern und Schlagzeugen (von Dirk Schäfer) uns daran erinnert, dass das Melodrama – als Körper-Genre betrachtet – irgendwo zwischen Musical und Thriller verortet ist, da es die ruhelose Bewegung des Ersteren besitzt und die packende Suspense des Letzteren erzeugt.

Trotz vieler Imitatoren sind die Arbeiten von Müller / Girardet heute immer noch aktuell, und besonders trifft dies auf ihre „Riffs“ über Hitchcock zu, einem der dankbarsten Ziele zeitgenössischer Künstlerinnen, denkt man an all jene, die den „Meister der Suspense“ und die Sphinx des „reinen Kinos“ als ihre Vorlage genommen haben: Judith Barry (1980), Victor Burgin (1984), Cindy Sherman (1986), Stand Douglas (1989), Christian Marclay (1990), Douglas Gordon (1993), David Reed (1994), Pierre Huyghe (1995), Tony Oursler (1996), Cindy Bernard (1997). Tatsächlich entstanden Müller / Girardets Phoenix Tapes im Auftrag von Kerry Brougher und seinen Ko-Kuratoren für Notorious: Alfred Hitchcock and Contemporary Art im Oxford Museum of Modern Art 1999, wo die meisten der genannten Künstlerinnen und Künstler mit Arbeiten vertreten waren, darüber hinaus der Regisseur Atom Egoyan, der Szenen aus einem seiner Spielfilme wiederverwendete, um die Hitchcockschen Hinweise und Anspielungen hervorzuheben.

The Phoenix Tapes (1999 / 2000) – woraus schließlich ein sechsteiliges Werk entstand, das vierzig Filme Hitchcocks auseinandernimmt und neu montiert – ist sogar noch ambitionierter als Home Stories und gibt dem Betrachter einen zusätzlichen Adrenalinschub, indem es einen veritablen Katalog an Zwangshandlungen präsentiert. Der Kritiker des Guardian beschreibt das unerbittliche Tempo der Phoenix Tapes in Oxford: „Christoph Girardet und Matthias Müller haben Hitchcock-Schnipsel von Taschen, Portemonnaies, Handtaschen, Ecken, Kreuzungen und Zügen, unter Türen hervordringendem Licht, fallenden und zerbrechenden Objekten, bösen Müttern und wütenden Liebhabern, Strangulierungen, Pistolen und gewaltsamen Entkleidungen in ihren ineinander übergehenden Filmausschnitten eingefangen, die auf Monitoren in der gesamten Ausstellung gezeigt werden. Diese Kompilationen sind vor allem deswegen besonders aufschlussreich, weil sie die stets sich wiederholenden Obsessionen des Filmemachers zeigen, seine Ticks, seine filmischen Reprisen. Sie geben eine Ahnung vom Reichtum Hitchcocks als Filmemacher ebenso wie von seinen um sich selbst kreisenden Obsessionen.“ (Adrian Searle, „Hitch and Run Tactics“, The Guardian, 20. Juli 1999)

Man könnte die Phoenix Tapes als einen „catalogue raisonné de la déraison“ bezeichnen, einen vernünftigen Katalog der Unvernunft und des Wahnsinns, der mehr als nur einen Anflug von Surrealismus enthält. Searle lässt die Kompilation jedoch allzu sehr wie ein Oberseminar über Hitchcock klingen, in dem die persönlichen Ticks und durchgängigen ‚Themen‘ des Kino-Auteurs sinnfällig gemacht werden. Ich habe mich für #4 Why Don’t You Love Me entschieden, weil es einige dieser typischen Hitchcock-Motive bestätigt, während es zugleich auch andere Möglichkeiten aufscheinen lässt. So ist etwa die Frage im Titel ebenso ironisch wie doppeldeutig, weil sie nicht, wie zu erwarten sein könnte, von einer Frau an ihren launischen Ehemann oder unwilligen Liebhaber gerichtet wird, sondern vielmehr im Raum stehen bleibt: Da beinahe alle Szenen Begegnungen zwischen Mutter und Sohn zeigen, könnte es die Mutter sein, die die Frage stumm an den Sohn richtet, oder umgekehrt der Sohn, der zur Mutter spricht (in diesem Fall würde die Frage lauten: „Warum liebst du mich zu sehr?“). Tatsächlich handelt es sich um einen Satz aus Marnie. Kurz, die Ausschnitte kombinieren einige der monströsesten Mütter, die jemals auf der Leinwand zu sehen waren, deren überwältigende Besitzansprüche (in Notorious, Shadow of a Doubt, Strangers on a Train, Psycho) ihre Söhne (und, im Fall von Marnie, ihre Tochter) zu Kriminellen, Serienmördern und Psychopathen macht.

Als Schulbeispiel für ödipale Verwirrungen und unüberwundene Mutterbindungen sind The Phoenix Tapes ebenso sehr eine Hommage an Sigmund Freud wie Interpretationen von Hitchcock, und treffenderweise wurden sie Ende 2007 auch im Freud-Museum in der Wiener Berggasse gezeigt. Doch gerade wegen ihrer Übereinstimmung mit einer gewissen Vorstellung von Psychoanalyse (und mehrere der Ausschnitte zeigen Berufs- oder Amateur-Analytiker) lassen sie einen mit der Frage zurück, wessen Unbewusstes diese zwanghaften Wiederholungen identischer Gesten, identischer Redewendungen und Gesichtsausdrücke offenbaren. In erster Linie natürlich die verborgenen Wünsche und Triebe der fiktiven Charaktere; doch wenn sich derart viele Protagonisten auf solch ähnliche Weise verhalten, drängt sich ein allgemeineres Muster auf, das durch den gekonnten Schnitt beinahe identischer Szenen aus völlig unterschiedlichen Filmen eindrückliche Evidenz erlangt. Dies ist der Grund, weswegen wir dazu neigen, das Muster dem Schöpfer, das heißt dem Regisseur zuzuschreiben. Und angesichts einer Person, die auf so extravagante Weise sich selbst zur Ikone gemacht hat wie Hitchcock, und einer Persönlichkeit, die mit solch dunklen Konflikten belastet war, wie seine zahlreichen Biografen es ihm zuschreiben, könnte man es leicht dabei belassen.

Aber warum sollte man Müller / Girardets endlose Stunden des Sichten und Auswählens nicht auch als ein ‚Gedankenexperiment‘ betrachten? Eines, das beweist, dass das Kino selbst – und insbesondere das Genrekino Hollywoods – über ein Unbewusstes verfügt: vielleicht über ein reicheres (und trügerischeres) als das sogar seiner herausragendsten Praktiker? Während Home Stories reine Choreografie und Bewegung ist und dadurch einen Effekt der Synthese erzeugt (im Gegensatz etwa zu Martin Arnolds viel analytisch-dekonstruktiveren Übungen wie Pièce Touchée, Passage a l’acte und Alone. Life Wastes Any Hardy), basieren die einzelnen Teile der Phoenix Tapes eher auf Kontrast und Gegenüberstellung, während sie zugleich (genau wie bei Arnold) die der filmischen Enunziation innewohnende latente Aggression und Gewalt zum Vorschein bringen: Die Gewalt auf der Leinwand ist oft bloß das bildliche Vehikel für die Gewalt der Leinwand. In anderen Worten, diese Montagen zeigen nicht nur die widerspenstige und versteckte Kehrseite des glatten unsichtbaren Schnitts von Hollywood, sondern auch, warum diese Kehrseite notwendig ist, um uns, oftmals gegen unseren Willen, zu fesseln, abhängig zu machen, hineinzuziehen. Es erklärt, warum nicht nur Hitchcocks Bösewichte interessanter als seine Helden sind: Sie haben ein reicheres und konfliktträchtigeres „filmisches Unbewusstes“, und obwohl ihre Triebe und Zwänge wesentlich für den Fortgang der Handlung sind, werden ihre Taten letztendlich in unserem Namen begangen. In dieser Hinsicht ist #4 Why Don’t You Love Me? eine Frage, die Hollywood (vermittelt über Müller / Girardets Hitchcock) uns wie zum Trotz stellt: „Könnt ihr etwa anders, als mich zu lieben?“

Thomas Elsaesser November 2013 (Übersetzung: Robert Schlicht)

Thomas Elsaesser ist Professor emer. an der Fakultät Medien und Kultur der Universität von Amsterdam und war von 2006-2012 Gastprofessor an der Yale University, seitdem an der Columbia University, New York. Seine Bücher und Aufsätze zur Filmgeschichte, Filmästhetik, zum europäischen Kino, Hollywood, den Neuen Medien und der Videokunst sind in mehr als 15 Sprachen erschienen. -Deutsche Buch-Veröffentlichungen: Das Weimarer Kino: aufgeklärt und doppelbödig (Berlin: Vorwerk8: 1999), Metropolis (München: Europa Verlag, 2001), R.W.Fassbinder (Berlin: Bertz + Fischer, 2001, neu bearbeitet, 2012), Filmgeschichte und Frühes Kino (München: text + kritik, 2002), Terror und Trauma: über die Gewalt des Vergangenen in der BRD (Berlin: Kadmos, 2007), Filmtheorie: zur Einführung (mit Malte Hagener, Hamburg: Junius, 2007, 5. Auflage, 2013) und Hollywood Heute(Berlin: Bertz + Fischer, 2009).

#Videotapes In der Reihe #Videotapes sind internationale FilmemacherInnen, KünstlerInnen, KuratorInnen und TheoretikerInnen eingeladen, Werke aus der Sammlung des Neuen Berliner Kunstvereins vorzustellen und zu kommentieren. Den Auftakt bilden Birgit Hein (Filmemacherin und Autorin, Berlin; Vizepräsidentin der Sektion Bildende Kunst an der Akademie der Künste Berlin), Thomas Elsaesser(Filmwissenschaftler und Autor, Amsterdam / New York; Prof. für Film und Fernsehen, University of Amsterdam), Harun Farocki (Filmemacher und Autor, Berlin; Prof. emer. für Film und Fernsehen, Akademie der bildenden Künste Wien). Mit dieser Reihe setzt der Neue Berliner Kunstverein seine Online-Aktivitäten im Bereich der Kunstvermittlung weiter fort und eröffnet neue Perspektiven auf das Medium im digitalen Zeitalter. Die Reihe #Videotapes wird kuratiert von Sophie Goltz.

#Videotapes 4–6 Kuratiert von Thomas Elsaesser

Johan Grimonprez, Kobarweng, or Where is Your Helicopter (1992) Christoph Girardet / Matthias Müller, Phoenix Tapes (#4 Why Don’t You Love Me?) (1999) Hito Steyerl, Lovely Andrea (2007)

Der Neue Berliner Kunstverein wird gefördert durch die LOTTO-Stiftung Berlin