Michael Klier
Mittwoch, 1. Januar 2014 – Montag, 31. März 2014
Kuratiert von Harun Farocki (Filmemacher und Autor, Berlin; Prof. emer. für Film und Fernsehen, Akademie der bildenden Künste Wien)
Der Riese, 1983
Michael Kliers Film ist aus Bildern aus Überwachungskameras zusammengesetzt. 1983 war die Videoüberwachung noch etwas Neues. Drehte man damals, wenn auch nur mit einer Videokamera, eine Einstellung auf der Straße, blieben Passanten stehen und fragten, wann das denn gesendet werde. Wer mit einer Kamera umging, dem wurde eine gewisse Bedeutung zugeschrieben. Heute werden digitale Kameras in allerlei Geräte eingebaut, etwa in die Lokomotiven von Modell-Eisenbahnen und in fast jedes Mobiltelefon. Eine Kamera hat heute keinen größeren Wert als ein Kugelschreiber.
Und bald wird man es wohl als Beleidigung empfinden, eine Kamera geschenkt zu bekommen. Auch an das Gefilmt-werden haben die meisten Menschen sich gewöhnt. Sie stören die Aufnahme nicht durch Winken oder indem sie in die Kamera schauen. Sie wissen, dass sie ständig in einer Weise mittelbare Personen der Zeitgeschichte sind und damit ihr Recht am eigenen Bild verwirkt haben.
1992, während des Krieges der Alliierten gegen den Irak, veröffentlichte die Pressestelle des US-Militärs besondere Überwachungsbilder: Bilder aus Kameras, die in der Nase eines Projektils eingebaut waren, das sich jeweils im Anflug auf ein Ziel befand. Filmende Bomben mit Einweg-Kameras. Es hieß, diese Projektile seien intelligente Waffen und so gerieten die beiden Wörter Überwachungsbilder und intelligent einmal in nächste Nähe zu einander.
Gab es 1983, etwa auf einer U-Bahn-Station, einen Monitor mit dem Bild des Bahnsteigs zu sehen, sahen viele hin. Was gab es da zu sehen? Ein vielleicht nicht attraktives, aber wenigstens vom Gewohnten abweichendes Bild: ein Bild, das nicht unterhalten oder belehren sollte. Das nicht eigentlich ein Bild sein wollte. Die Kamera half dem Fahrer, den Bahnsteig zu überblicken, wie es auch ein Spiegel getan hätte. Die Kanalfunktion des Mediums. Technische Bilder, operative Bilder.
Der französische Philosoph Roland Barthes postulierte eine operative Sprache, im Gegensatz zur geläufigen mythologischen. Der Holzfäller, der den Baum fällt, spricht den Baum und nicht über den Baum. Schwer vorstellbar, dass die Sprache nichts als ein Werkzeug sein kann. Kaum vorstellbar, dass ein Bild nur ein Werkzeug sein kann – aber ihr Streben, nichts als ein Werkzeug zu sein, hat den Überwachungsbildern kurz Aufmerksamkeit verschafft.
In dem Film M (1931) sucht die Polizei mittels Rasterfahndung einen Kindermörder. Es gibt ein Bekennerschreiben, das auf einer geriffelten Unterlage geschrieben wurde. Polizisten machen Hausbesuche bei allen wegen Sexualdelikten mit Kindern Vorbestraften und sehen nach, ob dort die Tischplatte Rillen hat.
Im Hamburg der frühen 1980er Jahre, bei der Rasterfahndung nach Terroristen, untersuchte die Polizei zunächst, wer Strom und Gas nicht vom Konto abbuchen ließ, sondern auf Postämtern einzahlte. Das waren nur ein paar hundert Personen. Zunächst wurden alle ausgeschieden, die über 60 Jahre alt waren. Damit waren die Wohnungen der Terroristen lokalisiert.
Diese Vorgehensweise ist wenig heroisch. Sie setzt dem Lustmord am Kind oder dem terroristischen Akt die leidenschaftslose strukturelle Untersuchung entgegen.
Ferngelenkte Waffen werden heute von Schreibtischen aus gesteuert, bei festen Arbeitszeiten, und ohne dass die Täter ihre Familien verlassen müssten. Der Krieg ist nicht mehr ein Ausnahmezustand. Es muss auch Kriminal- oder Polizeifilmen heute schwerer fallen, die Verbrechensbekämpfung anders als einen bürokratischen Akt zu beschreiben.
Für die Bilder, die im Fernsehen zu sehen sind, muss man zahlen – allerdings, nicht viel, kaum mehr als für die Heizung – man muss Menschen dafür bezahlen, dass sie die Überwachungsbilder ansehen. Viel bekommen sie nicht. Seit langem wird an Bildverarbeitungen gearbeitet, an Schaltungen, die etwas Gefährliches oder Verbotenes automatisch erkennen.
Klier hat, bevor die Kameras so billig waren, dass man sie nachgeschmissen bekam, auf das eigene Bildermachen verzichtet und ist über Monate mit dem Aufnahmegerät herumgefahren, hat Überwachungsbilder mitgeschnitten und auch archivierte Bilder kopiert.
Er nannte seinen Film Der Riese. Ein Riese ist stark aber nicht besonders verständig. Man kann sich den Riesen gut vorstellen, wenn man Bilder aus Kameras sieht, die aus großer Höhe aufgenommen wurden. Der unsichtbare Riese schwenkt tapsig die Kamera und zieht den Zoom. Er versucht, ein Segelboot, ein Liebespaar zu kadrieren. Er macht Bilder von dem, was „schön“ ist, was er deshalb haben will; oder er will verschönen, was er haben will.
Klier versetzt mit seiner Montage und ihrer Musikbegleitung die Bilder in die Möglichkeitsform: Könnten das Bilder einer Filmerzählung sein? Eine produktive Fehldeutung.
Harun Farocki, Januar 2014
Harun Farocki ist ein deutscher Filmemacher. Von 1966 bis heute realisierte er über 100 Produktionen für Kino, Fernsehen und Kunstraum. Er unterrichtete an zahlreichen Akademien und Hochschulen Film in Praxis und Theorie.
Michael Klier, Der Riese (1983) James Scott, Richard Hamilton (1969) Eduardo Palozzi, History of Nothing (1960–1962)