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Eduardo Paolozzi

Dienstag, 17. Juni 2014 – Sonntag, 14. September 2014

Eröffnung
Onlineprogramm

Kuratiert von Harun Farocki (Filmemacher und Autor, Berlin; Prof. emer. für Film und Fernsehen, Akademie der bildenden Künste Wien)

Am 30. Juli 2014 verstarb Harun Farocki im Alter von 70 Jahren in der Nähe von Berlin. Die Welt verliert damit einen der wichtigsten kritischen zeitgenössischen Filmemacher, Videokünstler und Autoren.

History of Nothing, 1960–1962

1961, in dem Hamburger Lokal Palette, das vielen, die woanders ihre Jugend vergeudet haben, bekannt ist, weil Hubert Fichte darüber einen Roman veröffentlicht hat, erfuhr ich zweierlei. Einmal, im Top Ten Club spiele eine sehr tolle Band aus Liverpool. Als wir hinkamen, waren die Beatles aber gerade nach England zurück.

Etwas später erfuhr ich von Studenten an der Kunsthochschule, es gäbe bei ihnen jetzt einen tollen Dozenten aus England. Eduardo Paolozzi war auch mehrfach in der Palette und wurde dabei von Studenten begleitet, die zu ihm laut ein sehr rudimentäres Englisch sprachen. Wenn man sich für Kunst und Kultur interessierte, musste man damals Französisch lernen – und das wurde auch in der Palette eher gesprochen als Englisch.

Die Erneuerung des Kinos ging damals von Frankreich aus. Die Musikrevolution und auch der Aufstieg der Pop-Art gingen beide von England und den USA aus.

Der Film History of Nothing, Paolozzis erster Film, besteht aus einer Folge starrer Aufnahmen, die jeweils ein paar Sekunden zu sehen sind. So kurz zu sehen sind, dass oft die Zeit nicht einmal für eine erste Inaugenscheinnahme reicht.

Kurz zu sehen sind Abbildungen, die meisten wohl aus Technikbüchern und -zeitschriften. Zu diesen Bildzitaten kommen Collagen, etwa: zwei ringende Männer vor einem vielfältig verzierten Vorsprung – vielleicht der Verkleidung eines Aufzugs-Schachts. Einmal eine Schaufensterpuppe fototechnisch vor eine sakrale Sandsteinfassade collagiert. Die Kamera schwenkt hier vertikal herunter, um einen vor dem Puppenschoß befestigten Blumenstrauß vorzuzeigen. Es gibt neben den Technikbildern, oft in einem Ausschnitt gezeigt, der es schwer macht, den Gegenstand zu erkennen, mehrfach Frauenbilder, Puppen, Revuetänzerinnen.

Bei Schiffen wird der Raum, von dem aus navigiert wird, Brücke genannt. Er enthält das große Steuerrad und einen Geschwindigkeits- und Richtungsregler. (So war das jedenfalls früher. Heute werden die Schiffe wahrscheinlich mithilfe von Joystick und Playstation gesteuert.) Solche Brücken, die anders als die Fahrstände in Lokomotiven viel freien Raum bieten, sind zum Vorbild der Kontroll- und Steuerräume in Industriebauten geworden, etwa in Kraftwerken. Solche Räume scheinen es Paolozzi angetan zu haben und ebenso mechanische Regler.

Die rasche Bildfolge wird von Geschrammel begleitet und auch von Geräuschen, von Eisenbahnrattern oder Kuhgemuhe. Anfang der 1960er Jahre, als das Kino sich fast ausnahmslos noch sehr ernst nahm, waren solche mit einfachsten Mitteln erzeugten antisemantischen Toncollagen das Signet des Aufsässigen, Kühnen, Experimentellen. Der Kurzfilm, vor allem aus den osteuropäischen Staaten, der auf den Festivals, in Westdeutschland in Oberhausen und Mannheim, die Preise gewann, ließ auf der Tonspur auf den Hochzeitsmarsch Maschinengewehrrattern folgen und verulkte auf der Bildspur gern die Fortschrittsgläubigkeit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Ich denke, die Trickfilmer im Osten zielten damit auf die Fortschrittsgläubigkeit der Kommunisten. Im Zeichentrickfilm war der Schmetterling die Gegenfigur. Bei Paolozzi ist es die Schaufensterpuppe, halbnackt.

Ganz abtun will ich den Film von Paolozzi nicht. Er lässt immer wieder Apparate und Geräte wie Großbauwerke erscheinen und zeigt auch, wie sehr sie den Möbeln in den vollgestopften viktorianischen Wohnungen gleichen. Es lohnte, diese Spur aufzunehmen. Hauptsache ist aber das Sich-lustig-Machen über das Altmodische: Gegenwartschauvinismus. Ich bin da wohl so empfindlich, weil das eine Schülergesinnung ist und ich damals Schüler war.

Nach allem, was man über ihre Lebensführung weiß, müssten Roland Barthes und Michel Foucault, die sich, ohne von einander zu wissen, beide zu dieser Zeit in Hamburg zum Archivstudium aufhielten, auch einmal den Weg in die Palette gefunden haben. Und rechtzeitig in den Top Ten Club.

Harun Farocki, Juni 2014

Harun Farocki ist ein deutscher Filmemacher. Von 1966 bis heute realisierte er über 100 Produktionen für Kino, Fernsehen und Kunstraum. Er unterrichtete an zahlreichen Akademien und Hochschulen Film in Praxis und Theorie.

Michael Klier, Der Riese (1983) James Scott, Richard Hamilton (1969) Eduardo Palozzi, History of Nothing (1960–1962)

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