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Hito Steyerl

Sonntag, 1. Dezember 2013 – Montag, 13. Januar 2014

Eröffnung
Onlineprogramm

Kuratiert von Thomas Elsaesser (Prof. für Film und Fernsehen, University of Amsterdam, Amsterdam / New York)

Lovely Andrea, 2007

Lovely Andrea war die Arbeit von Hito Steyerl, bei der ich ihrem Namen zum ersten Mal begegnet bin. Ich sah das Video am 31. Juli 2007 im zweiten Stock der Rotunde im Fridericianum auf der von Roger Buergel und Ruth Noack kuratierten Documenta 12. Trotz der etwas ungünstigen Platzierung – gefangen an einem Ort, der eigentlich ein Treppenhaus ist –, hat der Film mich dennoch sofort gefesselt: eine angemessene Metapher, da die Arbeit mir in dem Moment ins Auge fiel, als Asagi Ageha gerade eine ihrer beeindruckenden Pirouetten am Seil drehte – aufgehängt, fallend, steigend, schwebend. Zuerst verstand ich nicht genau, warum mich das Video so sehr in seinen Bann zog, außer dass seine fröhliche Sorglosigkeit die eher ernsthafte und leicht pathetische Atmosphäre aufhellte, die über der Documenta zu hängen schien.

Lovely Andrea ist eine außergewöhnlich originelle Arbeit voll pointiertem Witz. Sie verführt vor allem mit ihren zahlreichen unerwarteten, aber passenden Gegenüberstellungen: von Spider Man und Web-Design, Seiltricks und ausbeuterischen Textilfabriken, Punk-Rock von X-Ray Spex und Techno-Pop von Depeche Mode, um dann in düsterere Assoziationen überzugehen: die in Handfesseln gelegten Gefangenen von Guantanamo Bay, der berüchtigte „Kapuzenmann mit Elektrokabeln“ in Abu Ghuraib und japanische Soldaten im Zweiten Weltkrieg, die ihre chinesischen Gefangenen fesseln, bevor sie sie erschießen oder enthaupten.

Es gibt aber auch trockenen Humor, oftmals von der selbstironischen Sorte, angefangen mit dem „augenzwinkernden“ Titel dieser sehr persönlichen Suche: „à la recherche du cul perdu“, bis zu den verpatzten wiederholten Einstellungen, die das Video beschließen. Nicht zufällig sind dies die (beinahe) einzigen Szenen, in denen die Filmemacherin selbst im Bild zu sehen ist, wie sie es geschickt vermeidet, eine klare Antwort zu geben auf die Frage ihres deutschen Produzenten, worüber es im Film letztendlich gehe.Diese meta-kinematografischen Momente verdeutlichen, dass hier eine Dokumentarfilmerin sich des zunehmend schwierigen Status des Dokumentarischen als Genre und Praxis sehr bewusst ist, insbesondere im digitalen Zeitalter, insbesondere wenn es sich „zwischen den Stühlen“ von Kino und Fernsehen einerseits, und dem Museum oder der Galerie andererseits befindet.

Im Kunstraum der Documenta 12 lief das Video in einem Loop, hatte also keinen wirklichen Anfang, Mittelteil oder Ende: auch dies eine eher kontraproduktive Wirkung der Präsentation im „offenen Raum“ statt in einer separaten „Black Box“ (die Buergel und Noack ausdrücklich aus ihrer Ausstellung verbannten). Und auch wenn die Arbeit von der und für die Documenta in Auftrag gegeben wurde, folgt Lovely Andrea sehr sorgfältig einer filmisch-linearen Konstruktionsweise – trotz der meta-filmischen Klammer. Schließlich ist die Handlung als eine Suche konzipiert, als Nachforschung und Recherche, weshalb viele Kritiker sie mit einer „Detektivgeschichte“ verglichen haben und dabei sogar Citizen Kane erwähnten. Zu ihren kinematografischen Vorgängern würden auch ethnografische Filme zählen, sodass das verschollene Foto der jungen Hito als Bondage-Girl (im Gegensatz zum Bond-Girl) gewissermaßen zu einem Vorwand wird: um die zwielichtige und offen gesagt ziemlich widerwärtige Softporno-Industrie des „nawa-shibari“ (Fesseln und Hängen) zu erkunden, die die Obsessionen japanischer Männer mit pubertierenden Mädchen bedient, manche von ihnen wie Truthähne zusammengeschnürt, andere gefesselt, geknebelt und eingewickelt wie Bündel alter Lumpen, bereit für den Müll oder das Recycling.

Als eine Übung in erotischer Ethnografie hat das Video seine didaktischen Qualitäten. Wir erfahren, dass das japanische Bondage sich aus der Kampfkunst entwickelt hat, als Kriegsgefangene mithilfe von Seilen gefangen genommen, gefoltert und transportiert wurden. War es ursprünglich durch ästhetische Kunstfertigkeit und militärischen Drill geprägt, ist die Assoziation des Seils mit Erotik ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Des Weiteren wird uns ein bärtiger, kettenrauchender „Experte“ vorgeführt, der anzüglich in die Kamera grinst, während er erklärt, dass „japanischer SM unterwürfig ist, er basiert auf dem Gefühl der Scham“. Offensichtlich von seiner eigenen Schlauheit begeistert, fügt er, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, hinzu: „Und was ist Scham? Die Libido des Hirns“. Doch als ein älterer Herr namens Tanaka Kinichi in einem schicken Anzug, der ehrerbietig als „der Meister“ angesprochen wird, in sich hineingluckst, während er sich daran erinnert, wie er und seine Kumpane junge Mädchen von der Straße mit Tricks und Ködern in sein Atelier lockten, ihnen drohten, bis die Mädchen sich fesseln und fotografieren ließen, nur um im Austausch dafür wieder freigelassen zu werden, verwandelt sich die Detektiv-geschichte in einen Horrorfilm, zumal dies anscheinend derselbe Mann ist, der Hito zwanzig Jahre zuvor fotografiert hatte und der auch heute noch stolz seine Webseite mit Hunderten solcher Fotos präsentiert und darauf beharrt, dass es sich um „Kunst“ handele.

Das Video ist zwar subtiler als meine Beschreibung, doch es substantiiert den Schlussdialog des Filmes: „Verstehen Sie sich als Feministin?“, wird Hito gefragt: „Auf jeden Fall“, antwortet sie, und als Feministin ist ihre Politik sowohl leidenschaftlich analytisch wie radikal egalitär. So bemerkt sie zum Beispiel, während man Mädchen sieht, die für ein Fotoshooting vorbereitet werden, dass „Bondage Arbeit ist“, worauf der Satz folgt, dass „Arbeit Bondage ist“: ein Verweis auf Jean-Luc Godards rhetorische Lieblingsfigur („pas une image juste, juste une image“), der mit Aufnahmen von Reihen von Frauen in einer Fabrik illustriert wird, die sich über ihre Nähmaschinen beugen, als ob sie an sie gekettet wären. In den Zwischentiteln wird darüber hinaus eine faszinierende Parallele zwischen sexuellen und politischen Tabus gezogen, wenn einerseits die japanischen Pornografen nostalgisch von der guten alten Zeit der Zensur und der Polizeirazzien schwärmen (als das Geschäft lukrativer, aber auch rauer war), und andererseits der Teaser des ersten Spider-Man-Films nach dem 11. September zurückgezogen (zensiert) wurde, weil er Spider Man zeigte, wie er einen Polizeihubschrauber in einem riesigen, zwischen den Zwillingstürmen gespannten Netz einfängt.

Doch die Politik von Lovely Andrea geht über solche vergleichende Entsprechungen hinaus. Eine wichtige Protagonistin im Video ist die bereits erwähnte Asagi Ageha, eine japanische Performancekünstlerin, ehemaliges Bondage-Modell und heute ihre eigene Chefin, die als Übersetzerin für die Crew und für die Filmemacherin als Vermittlerin arbeitete. Ageha bietet eine alternative Perspektive, oder vielmehr eine zweifache Perspektive: als Künstlerin und als Frau. Als Künstlerin nutzt sie ihren eigenen Körper als Ausdrucksmaterial, womit sie in der Tradition von Joan Jonas, Yvonne Rainer, Carolee Schneeman in den 1960er und 70er Jahren und Marina Abramović in den 1980er Jahren steht. Sie bezeichnet ihre Arbeit als „Selbstaufhängung“ und erläutert die Inspirationen und Orientierungslinien für ihre Performances, die in der Tat außergewöhnlich sind: „Soloperformances, die sich auf die Arbeit des Bondage-Modells beziehen, dabei aber die akrobatischen Momente hervorheben; in einer invertierten Projektion erscheint [Ageha], als würde sie nach oben getrieben, schwerelos schwebend.“ (Frieze)

Als Frau spricht Ageha offen von ihrer Lust, gefesselt zu werden: „In der Luft fühle ich mich wirklich frei; andererseits bin ich mit dem Seil an das Zentrum von etwas gebunden“, und sie gesteht sogar ein, dass sie „ohne dieses Gefühl vielleicht nicht mehr leben kann“. Darin klingt der deutsche Bondage-Experte und Seilmeister wieder, der eingangs davon spricht, dass einigen der, in Anführungszeichen: Opfer die Empfindung des Schwebens gefällt, ebenso wie der Anblick und das Gefühl der Wülste und Quetschungen, die die Seile auf ihrer Haut hinterlassen, während eine andere behauptet: „Nur an Seilen fühle ich mich frei“. Es liegt an uns, die Bewertung „in der Schwebe zu lassen“ und die Betrachtungsweise dieser Frauen mit dem „ins Gleichgewicht zu bringen“, was wir von den ihnen „assistierenden“ Männern sehen, oder dem Gehabe der Macho-Typen unter den Tokioter Seilmeistern und Pornofotografen.

Doch was ist mit dem Titel Lovely Andrea, und was mit dem verschollenen Foto? Zunächst scheint es der scherzhafte nom de cul zu sein, den Hito sich damals selbst gegeben hat, als sie Film- und Kunststudentin in Tokio war und sich 1987 dem pikanten Fotoshooting fügte, für das der Seilmeister ihren gefesselten Körper mit einem Anflug von westlicher Exotik verknüpfen wollte. Wer Hito Steyerls Arbeit kennt, weiß jedoch auch um die emblematische Bedeutung des Namens Andrea, die zentrale Figur in November (2004) und der unruhige Geist in fast all ihren Werken. In November erfahren wir, dass Andrea Wolf Hitos beste Kindheitsfreundin war, deren leidenschaftlich unabhängigen und kämpferischen Geist die junge Filmemacherin wirksam in ihrem ersten Studentenfilm einsetzte, und die sich später, unter dem nom de guerre Sehît Ronahî, der PKK anschloss, der kurdischen Befreiungsbewegung im Nordirak, wo sie 1998 getötet wurde. Seitdem hat Hito Trauerarbeit für ihre verlorene Freundin geleistet, vor allem da Andreas Leiche nie gefunden wurde und alles, was von ihr überlebt, ein Posterfoto ist, das einst im Andenken der als Märtyrerin Verehrten auf Protestmärschen mitgeführt wurde.

Ein verschollener Körper, ersetzt durch ein Foto in November, ein verschollenes Foto, das einen fetischisierten (und „gefolterten“) Körper in Lovely Andrea ersetzt: Godards Figur des überkreuzten Austauschs gilt auch hier, da sich die Beziehung zwischen Körper und Bild in beiderlei Richtung darstellt, insofern Andreas Bild auf dem Poster ebenfalls fetischisiert wird, während nur der Himmel weiß, was mit ihrer Leiche passiert ist. Auch wenn es dem Team zuletzt offenbar doch gelingt, Hitos Foto in einem der Hunderte Hochglanzalben im „Sexarchiv“ aufzuspüren, vermittelt sich der Eindruck, dass eine wichtige Auslassung in Lovely Andrea (das Wort) „verschollen“ ist, wodurch das Video zu einer Art von Bilderrätsel all dessen wird, was sowohl in Hito Steyerls Werk wie in ihrer Biografie eine abwesende Anwesenheit bleiben muss.

Doch um die umfassendere (film-)politische Bedeutung nicht zu verfehlen: Eines der konstanten Themen in Hitos filmischer Arbeit und in ihren Schriften ist die Art und Weise, wie dokumentarische Bilder zu politischen Zwecken genutzt und missbraucht werden können und wie die Zirkulation medialer Bilder die Wahrnehmung der Realität oftmals entscheidend verändern kann, sodass die unheimliche Macht solcher – ihrem Kontext entrissener, aber immer noch von ihrer „Authentizität“ profitierender – Bilder auch in Lovely Andrea zum Thema wird. Dies macht die Suche nach dem ‚cul perdu‘ auch zur Suche nach dem verlorenen ‚cul‘ (Wagemut oder Kühnheit in der französischen Umgangssprache) des dokumentarischen Bildes, das dem Filmemachen anfangs als Waffe im Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit diente, sich heute aber womöglich in der Situation wiederfindet, sowohl in Geiselhaft genommen wie gefesselt zu sein – in der Kunstwelt vielleicht nicht weniger als in der Politik.

Thomas Elsaesser Amsterdam, Dezember 2013 (Übersetzung: Robert Schlicht)

Thomas Elsaesser ist Professor emer. an der Fakultät Medien und Kultur der Universität von Amsterdam und war von 2006-2012 Gastprofessor an der Yale University, seitdem an der Columbia University, New York. Seine Bücher und Aufsätze zur Filmgeschichte, Filmästhetik, zum europäischen Kino, Hollywood, den Neuen Medien und der Videokunst sind in mehr als 15 Sprachen erschienen. Deutsche Buch-Veröffentlichungen: Das Weimarer Kino: aufgeklärt und doppelbödig (Berlin: Vorwerk8: 1999), Metropolis (München: Europa Verlag, 2001), R.W.Fassbinder (Berlin: Bertz + Fischer, 2001, neu bearbeitet, 2012), Filmgeschichte und Frühes Kino (München: text + kritik, 2002), Terror und Trauma: über die Gewalt des Vergangenen in der BRD (Berlin: Kadmos, 2007), Filmtheorie: zur Einführung (mit Malte Hagener, Hamburg: Junius, 2007, 5. Auflage, 2013) und Hollywood Heute (Berlin: Bertz + Fischer, 2009).

#Videotapes In der Reihe #Videotapes sind internationale FilmemacherInnen, KünstlerInnen, KuratorInnen und TheoretikerInnen eingeladen, Werke aus der Sammlung des Neuen Berliner Kunstvereins vorzustellen und zu kommentieren. Den Auftakt bilden Birgit Hein (Filmemacherin und Autorin, Berlin; Vizepräsidentin der Sektion Bildende Kunst an der Akademie der Künste Berlin), Thomas Elsaesser(Filmwissenschaftler und Autor, Amsterdam / New York; Prof. für Film und Fernsehen, University of Amsterdam), Harun Farocki (Filmemacher und Autor, Berlin; Prof. emer. für Film und Fernsehen, Akademie der bildenden Künste Wien). Mit dieser Reihe setzt der Neue Berliner Kunstverein seine Online-Aktivitäten im Bereich der Kunstvermittlung weiter fort und eröffnet neue Perspektiven auf das Medium im digitalen Zeitalter. Die Reihe #Videotapes wird kuratiert von Sophie Goltz.

Johan Grimonprez, Kobarweng, or Where is Your Helicopter (1992) Christoph Girardet / Matthias Müller, Phoenix Tapes (#4 Why Don’t You Love Me?) (1999) Hito Steyerl, Lovely Andrea (2007)

Der Neue Berliner Kunstverein wird gefördert durch die LOTTO-Stiftung Berlin