Online-Präsentation der Neuerwerbungen des n.b.k. Video-Forums 2019: Screening II.
Montag, 4. Mai 2020 – Sonntag, 24. Mai 2020
Aufgeteilt in zwei Screenings, präsentiert der n.b.k. eine Auswahl der Neuerwerbungen des n.b.k. Video-Forums.
Screening II.
Ab Montag, 4. Mai, 17 Uhr, bis Sonntag, 24. Mai, 23 Uhr
Mit Videoarbeiten von Candice Breitz, Lia Perjovschi, Tomas Schmit, Hito Steyerl
Gesamtlänge: 118 min
Lia Perjovschi
The Magic of the Gesture (Laces), 1989
PAL, schwarz-weiß, Ton, 3:46 min
Das Werk von Lia Perjovschi (*1961 in Sibiu / Rumänien, lebt in Sibiu und Bukarest) umspannt Performances, Aktionen, Installation, Zeichnungen und textbasierte Arbeiten, in denen sich die Künstlerin Fragen zur Sammlung, Archivierung und Distribution von Wissen aus Gesellschaft, Kunst und Politik widmet. Mitte der 1980er Jahre gründete sie gemeinsam mit Dan Perjovschi das Contemporary Art Archive / Centre for Art Analysis (CAA / CAA), ein sich ständig wandelndes Projekt, das von Perjovschi als „Kontext in Bewegung“, unabhängige Kunsteinrichtung und dynamisches Informationszentrum bezeichnet wird. 1999 rief sie zudem das bis heute bestehende interdisziplinäre Knowledge Museum (KM) ins Leben.
In Perjovschis frühen Arbeiten stand der physische Körper als Akteur und Wissensspeicher im Zentrum. Bewusst entschied sie sich, die eigene Wohnung, den Stadtraum oder auch die Universität als Ort für ihre Aktionen zu nutzen. So auch für das performative Experiment The Magic of the Gesture (Laces) (1989), das sie unter Ausschluss der öffentlichkeit im November 1989 mit 12 Studierenden verschiedener Fakultäten an der Kunstakademie von Bukarest realisierte. Die Künstlerin wickelt Bänder um die Arme und Beine der im Kreis sitzenden Teilnehmerinnen, sodass jeder mit je vier anderen Personen verbunden ist und jede individuelle Bewegung sich auf die gesamte Gruppe auswirkt. Mit der Zeit und in Abhängigkeit von den Bewegungen wird der Druck durch die Bänder stärker: „Manche versuchen aufzustehen, anfangs verfangen sie sich im Netzwerk, aber sie entledigen sich der Bänder, als diese unerträglich werden. Manche bereuten die Verschnürungen, die Verbindungen, andere nicht.” „Some try to stand up, they get caught in the network at the beginning but they undo their laces when these become unbearable. Some regretted the laces, the connections, others didn’t.” (Lia Perjovschi) Begleitet wurde die Aktion von den Improvisationen des Jazz-Musikers Decebal Badila.
Tomas Schmit
e-constellations, 2004
PAL, Farbe, Ton, 25 min (Loop)
Tomas Schmit (*1943 in Wipperfürth, ‡ 2006 in Berlin) hat die radikale Infragestellung der bürgerlichen Kunst und die Ansätze zu einer neuen ästhetik innerhalb der Fluxus-Bewegung der 1960er Jahre wesentlich mitgeprägt und gilt als einer ihrer Pioniere. In seiner künstlerischen Praxis, die ab 1970 insbesondere Zeichnungen hervorbringt, beschäftigte er sich auf humorvolle Weise mit Sprache, Logik, Paradoxie, Biologie, Verhaltensforschung und Wahrnehmung. Dabei ging er von konkreten Alltagsbeobachtungen aus.
Dem Zusammenspiel von Wort und Bild kommt in Schmits Arbeiten eine besondere Bedeutung zu. Sein Spätwerk e-constellations (2004) basiert auf 200 schlichten Zeichnungen aus gelben Fixpunkten und weißen Verbindungslinien auf schwarzem Grund. Einem Mobile gleich ergeben sich aus den Punkten und Linien ständig neue Permutationen. Als digitale Diashow hintereinander präsentiert, fungieren sie wie eine „Schule des Sehens“ und werden vom Künstler in einem Verfahren, das an Rätselspiele und das Deuten von Sternbildern erinnert, mit englischen Begriffen betitelt. Die Audiospur zu e-constellations zeichnete Schmit in einem Durchgang in seiner Berliner Wohnung in der Linienstraße 158 auf. Immer wieder hört man Straßengeräusche oder Gesprächsfetzen im Hintergrund. e-constellations bildete für Schmit den Anstoß zu einer Reihe weiterer Arbeiten, in denen er auf Audioaufnahmen und den Computer als bildgebendes Medium zurückgriff.
Candice Breitz
Factum Misericordia, 2009
Aus der Serie Factum, 2010
HD-Video, Farbe, Ton, 51:04 min
Die Video- und Fotokünstlerin Candice Breitz (*1972 in Johannesburg, lebt in Berlin) ist eine Chronistin der Widersprüchlichkeiten innerhalb populärer Diskurse. Ihr Interesse richtet sich auf die Dynamiken vertrauter Identitätsbildungen, die sie über komplexe Videoproduktionen und oftmals unter Hinzuziehung von Medienbildern wie Fotografien, Videoclips oder Hollywood-Produktionen analysiert.
Die Serie Factum (2009–2010) thematisiert in langen Interviews das Aufwachsen eineiiger Zwillinge und Drillinge und Prozesse der Identitätsbildung, in denen kleinsten Differenzen Bedeutung zukommt – so auch in Factum Misericordia (2009), einem Porträt zweier über 70jähriger Frauen. Wie in allen Factum-Porträts sind beide gleich gekleidet und sitzen während der Aufnahme alleine, aber jeweils in demselben, gemeinsam gewählten Raum. Die optische Verwirrung um die fast identischen Gesichter setzt sich so in der Kulisse fort, die keinem der beiden Zwillinge zuzuordnen ist und dabei den Wahrheitsgehalt der in ihr berichteten Lebensgeschichten sowohl zu tragen als auch konstant infrage zu stellen scheint. Der Titel Factum spielt auf Robert Rauschenbergs Bilder Factum I und Factum II (beide 1957) an. Wie die Zwillinge bei Breitz sind Rauschenbergs Arbeiten vorgeblich identisch, unterscheiden sich im Detail jedoch deutlich.
Candice Breitz ist mit einer weiteren Arbeit in der Sammlung des n.b.k. Video-Forums vertreten: LABOUR (NITUP) entstand 2019 als Koproduktion im Rahmen der Ausstellung Candice Breitz. Labour im Showroom des Neuen Berliner Kunstvereins.
Hito Steyerl
Duty Free Art, 2015
HD-Video, Farbe, Ton, 38:16 min
Hito Steyerl (1966 in München, lebt in Berlin) gehört zu den einflussreichsten Künstlerinnen der Gegenwart, in Zeiten von Hyper-Kapitalismus, digitalem Lebenswandel, Globalisierung und zunehmender politischer Krisen reflektiert sie unsere Welt künstlerisch und gesellschaftstheoretisch. In ihren Essayfilmen und raumgreifenden Videoinstallationen untersucht Steyerl die Politik der Bilder, hinterfragt die ihnen eingeschriebenen Machtmechanismen, beleuchtet politische Konflikte, den gesellschaftlichen Wandel in unserer technologisierten Gesellschaft und die Funktionsweisen unserer kapitalistischen Lebenswelt.
Bei Duty Free Art handelt es sich um eine Lecture von Hito Steyerl die sie 2015 im Artists Space, New York, hielt und die die ökonomischen Implikationen von Kunst thematisiert. Freihandelszonen, in denen spekulative Kunstgüter unsichtbar und steuerfrei gekauft und verkauft werden, sind – ebenso wie Bürgerkriege – ein wichtiges Rückgrat des internationalen Kunstgeschäfts. Beides erleichtert die Umverteilung von öffentlichem in privates Eigentum und wirkt als Katalysator für globale Ungleichheit. Darüber hinaus zeigt Steyerl anhand von WikiLeaks-Dokumenten, wie der Pariser Louvre, das Londoner British Museum und der Stararchitekt Rem Koolhaas dem syrischen Assad-Regime als Museumsplaner und Gentrifizierer dienten. Steyerl beschreibt all dies als die von oben nach unten organisierten Produktionsbedingungen zeitgenössischer Kunst und schlägt eine Umkehrung der Perspektive vor, um die in der Kunst sich verbergenden Wirkmächte der globalen ökonomischen Umverteilung von unten nach oben zu enthüllen.
Hito Steyerl ist mit einer Reihe weiterer Arbeiten in der Sammlung des n.b.k. Video-Forums vertreten: The Empty Center (1998), November (2004), Lovely Andrea (2007), After the Crash (2009, n.b.k. Koproduktion), In Free Fall (2010), Strike (2010), Abstract (2012) und Is the Museum a Battlefield? (2013). Der Neue Berliner Kunstverein präsentierte 2009 Steyerls erste Einzelausstellung in einer deutschen Institution und widmete der Künstlerin 2019 eine Ausstellung ihrer neuesten Werke.
Wir bedanken uns bei allen Künstler*innen für die Bereitschaft, ihre Arbeiten in diesem Rahmen zu präsentieren.
Das 1971 gegründete Video-Forum des Neuen Berliner Kunstvereins ist mit über 1.700 Werken die älteste sowie eine der größten internationalen Videokunstsammlungen in Deutschland. Auch im Jahr 2019 konnten die umfassenden Bestände erweitert und Werke der Videokunst im Rahmen der Künstler*innenförderung der Senatsverwaltung für Kultur und Europa des Berliner Senats und aus der institutionellen Förderung des n.b.k., beides aus Mitteln der LOTTO-Stiftung Berlin erworben werden.
Screening I. mit Videoarbeiten von John Bock, Pauline Boudry / Renate Lorenz, Eduard Constantin, Antje Ehmann / Eva Stotz und Clarissa Thieme fand vom 9. April bis 3. Mai 2020 statt.